Scroll Top
Die Solidarische Initiative Neuenhäusen in Celle bot Nachbar:innen Raum, sich gegen die Rodung einer Baumallee von über 50 Stadtbäumen zu organisieren. Dabei wurde breit diskutiert, was Demokratie bedeutet, wenn der Stadtteil es anders will als der Bürgermeister. Foto: Fabian Gottschlich

Die Kommune – Nachbarschaftsarbeiten der IDK im Kontext des Paradigmas der demokratischen Moderne

Thomas Main, Initiative Demokratischer Konföderalismus (IDK)

Zuerst erschienen im Kurdistan Report Nr. 239, Oktober 2025.

Seit einigen Jahren arbeitet die Initiative Demokratischer Konföderalismus in verschiedenen Nachbarschaften in unterschiedlichen Städten Deutschlands. Dabei stehen ihre Arbeiten im Zusammenhang des Paradigmas der demokratischen Moderne, der Stärkung der moralisch-politischen Gesellschaft und des strategischen Aufbaus demokratischer Autonomie. Der Artikel gibt einen Einblick in die Arbeiten und ordnet sie ein in die Perspektive des Aufbaus des demokratischen Konföderalismus.

Die Kommune als Kern eines neuen, globalen Systems demokratischer Autonomien

In den aktuellen Erklärungen der Freiheitsbewegung Kurdistans steht der Begriff der Kommune im Zentrum der politischen Strategie. Mit ihm knüpft die Bewegung an die gesellschaftlichen Erfahrungen von Selbstverwaltung an. Unter dem Begriff der Kommune werden diese Erfahrungen, von den Stammesgesellschaften außerhalb der ersten Staaten, über die Pariser Kommune, bis zur Kommune in der demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, zusammengefasst. Denn in der Kommune verwirklicht sich die moralisch-politische Gesellschaft, jene, die in der Lage ist, sich auf der Grundlage eigener Werte, Methoden und Prinzipien zu organisieren. Damit – so unterstreicht es das Paradigma der demokratischen Moderne – ist es die Kommune, die als moralisch-politische Gesellschaft den grundlegenden Widerspruch zum Staat darstellt. Sie ist der Kern eines neuen, globalen Systems von demokratischen Autonomien und Konföderationen, die gemeinsam die kapitalistische Moderne überwinden können.

Auf dieser Grundlage wurde in den letzten Jahrzehnten der demokratische Aufbauprozess in Kurdistan gestaltet. In den verschiedenen Teilen Kurdistans unterschied sich dieser jedoch aufgrund der spezifischen politischen Situation stark. In Rojava entstand ab 2012 das System kommunaler Selbstverwaltung in einem Machtvakuum, in der Situation des Rückzugs des syrischen Staates aus der Region. In Nordkurdistan wurde 2014 hingegen der Versuch unternommen, die demokratische Autonomie durch die politische Übernahme der kommunalen Verwaltung bei gleichzeitigem Aufbau basisdemokratischer Strukturen in einer Situation extrem autoritärer, militärischer Besatzung gegen den türkischen Staat auszurufen. So unterschiedlich die Ausgangssituationen auch waren und sind, die Perspektive der selbstorganisierten Gesellschaft, auf der Grundlage der Kommune als Fundament gesellschaftlicher Organisation im Rahmen der demokratischen Autonomie und des demokratischen Konföderalismus, blieb gleich.

Die Kommune im Kontext Deutschlands

Es gibt also in den Teilen Kurdistans unterschiedliche politi­sche Situationen, verglichen mit Deutschland ist der Unterschied jedoch enorm. Weder ein Machtvakuum noch die Realität eines militärisch intervenierenden Staates prägt hier die politische Situation, in der der Aufbau demokratischer Selbstbestimmung organisiert wird.

Doch mit der Analyse der Kommune als Versuch selbstorganisierten Lebens der Gesellschaft, lässt sich auch die Geschichte der demokratischen Zivilisation in Deutschlands betrachten. Einzelne Schlaglichter darin sind u.a. die konföderalen Zusammenschlüsse der Stammesgesellschaften gegen die ersten zentralistischen Imperien, die Almende-Gemeinschaften, freie Städte, Frauenkonvente der Beginen, die Badische Revolution von 1848, Arbeiter:innenvereinigungen oder die rätedemokratischen Ideen der Novemberrevolution von 1918. Und auch in der jüngeren Vergangenheit finden wir den Kampf um kommunale Selbstbestimmung, wie etwa im Widerstand gegen den Abbau kommunaler Verwaltung und das Zusammenlegen von Gemeinden in den 60er und 70er Jahren. Diese Beispiele zeigen, wie dem sich zunehmend zentralisierenden deutschen Staat in der Vergangenheit immer wieder Zugeständnisse abgerungen wurden bzw. kommunale Selbstbestimmung verteidigt wurde. Kommunalpolitische Strukturen mussten vom Staat anerkannt werden, wie sie bis heute formal im Grundgesetz verankert sind. Gleichzeitig entwickelte der Staat eine Strategie der Integration und zunehmender Entleerung kommunaler Selbstverwaltung. Neben den Strukturen, die ins staatliche System aufgenommen wurden, bestanden und bestehen jedoch bis heute unzählige gesellschaftliche Initiativen, Vereine, Netzwerke und eine aktive Zivilgesellschaft, die zum Teil staatliche Macht absichern, zum anderen Teil aber nach Wegen suchen, sich außerhalb des Staates zu organisieren und diesen zurück zu drängen. Dies ist die Ausgangslage des Aufbaus demokratischer Autonomie in der Bundesrepublik Deutschland.

Gesellschaftsarbeiten der Initiative Demokratischer Konföderalismus (IDK)

Im Mittelpunkt der konkreten politischen Arbeiten in der Gesellschaft, steht die Stärkung der moralisch-politischen Gesellschaft. Es geht um die Stärkung und Verteidigung der gesellschaftlichen Werte, wie gegenseitige Solidarität, Gleichheit, Empathie, Gerechtigkeit, eine ökologische Lebensweise und die Befreiung von Ideologien der Macht und Unterdrückung, wie Sexismus und Rassismus. Diese Gesellschaft findet ihren Ausdruck in der Kommune, der organisierten Nachbarschaft, in der Gemeinschaft, erfahrbar und gestaltbar wird. In den letzten Jahren der politischen Praxis der IDK, haben sich dabei einige zentrale Linien heraus kristallisiert.

Die gemeinschaftliche Lösung gesellschaftlicher Probleme

Der Kern gesellschaftlicher Selbstorganisierung ist die Entwicklung der Fähigkeiten der Gesellschaft, ihre konkreten Probleme selbst zu lösen. Zunehmende Einsamkeit durch fehlende Gemeinschaft, patriarchale und rassistische Gewalt, steigende Armut und fehlende politische Partizipationsmöglichkeiten sind nur einige von diesen. Sie sind der Ausgangspunkt, an dem sich gesellschaftliche Organisation zur Lösung entwickeln kann, wie z.B. in Nachbarschaftsküchen, Netzwerken gegen Femizide oder Gemeinschaftsgärten. In der gemeinsamen Organisation der Nachbarschaft lernen Menschen füreinander Verantwortung zu übernehmen – wenn es gilt für die Nachbarschaft zu Kochen, sich gegenseitig beim Kampf für die eigenen Rechte beim Jobcenter zu unterstützen oder entstehende Konflikte zu lösen. Sie lernen sich aufeinander einzulassen und zu respektieren. So kann Gemeinschaft entstehen und Netzwerke dienen der kollektiven Alltagsbewältigung. Direkte Solidarität wird spürbar und Initiativen Einzelner finden einen kollektiven Rahmen.

Der Blick auf die Welt: Aus den konkreten Erfahrungen der Menschen aus ihrem Alltag kann ein Bewusstsein für die globale Situation entstehen. In dieser lassen sich zunehmender Nationalismus, Rassismus und Krieg, patriarchale Gewalt, der Abbau demokratischer Rechte und die ökologische Krise in die globale Krise der kapitalistischen Moderne einordnen. Der Eingemeindungsprozess der 70er Jahre und der damit verbundene Verlust demokratischer Partizipationsmöglichkeiten können darin als globales Phänomen von Zentralisierung und Urbanisierung verstanden werden. Stärker werdender Nationalismus in der Nachbarschaft verbindet sich mit global immer stärker werdenden nationalistischen Kräften. Doch auch eine hoffnungsvolle Vision zur Lösung globaler Herausforderungen findet sich in konkreten Alltagserfahrungen. Die direkte Erfahrung von nachbarschaftlicher Solidarität erschafft ein positives Bild von Gesellschaft an sich. Die erfahrene Solidarität und Selbstorganisation schafft die Grundlage für internationalistische Solidarität mit Bewegungen, die die gleichen Ziele vertreten.
Bestehende Organisationen und Initiativen stärken und verbinden: Das bestehende Gewebe sozialer Verbindungen und Akteure bildet die Basis für den Aufbau demokratischer Selbstverwaltung. In diesen (noch) vorhandenen Verbindungen, Netzwerken, Initiativen und Vereinen liegt das Potential für gesellschaftliche Selbstorganisierung. So sind es bereits Aktive und die bestehenden sozialen Beziehungen, die nicht selten den Kern nachbarschaftlicher Organisationen bilden und durch diese gestärkt werden. Um diese nicht selten versteckten Beziehungen und Akteure kennenzulernen, braucht es ein Verständnis der Geschichte der Gesellschaft und des Ortes. Es braucht ein tiefes Mitfühlen mit dem Schmerz, aber auch den Hoffnungen und Wünschen der Gesellschaft, die in Erzähl-Cafés bei Kaffee und Kuchen, beim Essen oder Stadtteilspaziergang in Worte gebracht werden.

Die Geschichte der moralisch-politischen Gesellschaft hat unterschiedliche Strukturen und Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation erschaffen. Doch nachbarschaftliche Jugendtreffs, die Sozialberatung, das Seniorencafé, lokale Initiativen gegen häusliche Gewalt, Kampagnen gegen Infrastrukturprojekte oder die Landfrauenverbände, bestehen meist nebeneinander ohne Verbindung und gemeinsame Stärke. Durch eine geteilte Vision und organisatorische Struktur, kann eine starke gemeinsame Identität als widerständige Gemeinschaft entstehen.

Veränderung der Mentalitäten: Gesellschaftliche Spaltung, Ungleichheit und Hierarchien sind nicht nur verbunden mit den direkten staatlichen Institutionen, sondern eng verwoben mit Persönlichkeiten und Mentalitäten. Ein demokratisches Zusammenleben und Arbeiten setzt also auch die Veränderung der Einstellung, der Meinung und des Charakters von Persönlichkeiten voraus. Sonst sind es immer dieselben, die Verantwortung für das Essen, eine herzliche und offene Stimmung in der Küche, oder beim Organisieren von Veranstaltungen übernehmen. Eine kritische Auseinandersetzung mit den verinnerlichten Eigenschaften trägt dann dazu bei, dass alle in die Diskussionen und Entscheidungen eingebunden werden und das staatliche Denken von Hierarchien überwunden werden kann.

Autonom-feministische Organisierung: Die Befreiung von Frauen und weiteren widerständigen Geschlechtern von patriarchalen Machtverhältnissen ist eine Voraussetzung für eine demokratische Gesellschaft. Nicht selten ist es patriarchales Verhalten und sexualisierte Gewalt, durch die Spaltung, Macht und Dominanz Einzug in die Gemeinschaften hielten und halten. Das Kennenlernen von Frauen und weiterer Geschlechter in der Nachbarschaft, eigene Treffen innerhalb der Strukturen und Netzwerke gegen Gewalt an Frauen können kollektive Verteidigung gegen sexistische und frauenfeindliche Gewalt erlebbar machen. Darüber hinaus sind sie Motor für Veränderungen der gesamten Gemeinschaft. Denn nicht selten ist es die autonom-feministische Organisation, die auch Männer in der Gemeinschaft dazu ermutigt, sich selbst mit Macht und patriarchalem Verhalten auseinander zu setzen.

Aufbau und Verteidigung gegen den Staat: Der Staat, der viele Bereiche des Lebens unter die Logik von Herrschaft, Ausbeutung und Macht gestellt hat, ist ein zentrales Problem der Gesellschaft. Lebendige Gemeinschaften wurden und werden ihrer Fähigkeit beraubt ihre Probleme selbst zu lösen. Zunehmender Bürokratismus und Auflagen, Hygienevorschriften in der Nachbarschaftsküche oder GEMA-Gebühren bei Festen, unterbinden nicht selten spontanes und gemeinschaftliches Handeln. Die öffentliche Verwaltung verweigert die Nutzung zur Verfügung stehender Räume, die Stadtpolitik hofiert Immobilieninvestoren, was zu sozialer Verdrängung führt. Über staatliches Management einzelner Quartiere in Städten werden interessierte Nachbar:innen in unverbindliche Aktivitäten eingebunden und Selbstorganisation zum Zweck der Kontrolle und Verwaltung wieder in staatliche Ordnung gezwängt. So versucht der Staat auch die Selbstorganisation der Gesellschaft für sich nützlich zu machen, wenn sie Aufgaben sozialer Reproduktion übernimmt, die der Staat selbst nicht (mehr) leistet und leisten will. An diesen Konflikten kann deutlich werden, was oftmals nicht sichtbar ist: Der Aufbau selbstorganisierter Strukturen steht im Widerspruch zum Staat.

Die Perspektive der demokratischen Autonomie

Mit den Gesellschaftsarbeiten sollen jedoch keine Inseln geschaffen werden, die vielleicht für ein paar Jahre, ohne Strahlkraft über sich hinaus, eine etwas bessere Nachbarschaft schaffen. Vielmehr kann aus der Kommune, der Nachbarschaftsorganisation die Kraft erwachsen, dem Ziel einer demokratischen und ökologischen Gesellschaft, ohne gesellschaftlichen Sexismus und Rassismus näherzukommen. Voraussetzung ist, dass die Selbstorganisation der Gesellschaft immer weiter gestärkt, Lebensbereiche, die vom Staat bereits verlassen wurden, gefüllt, und aus anderen der staatliche Einfluss nach und nach zurückgedrängt wird. Dann ist die Kommune der Kern, aus dem die demokratische Autonomie erwachsen kann: Eine Autonomie des Zusammenschlusses vieler Kommunen und Nachbarschaftsorganisationen in Form von Räten, vom lokalen Nachbarschaftsrat bis zum Gesellschaftsrat einer ganzen Region.

Doch setzt die Autonomie nicht nur die Organisation der vielen Menschen auf der Grundlage ihrer konkreten alltäglichen Probleme und Bedürfnisse voraus. Auch die aktive Zivilgesellschaft, organisiert in gemeinsamen Räten, mit ihren vielen thematischen Vereinen, Organisationen und Initiativen, bildet die Grundlage der Autonomie. Und parlamentarische Parteien oder Wahlbündnisse können innerhalb der staatlichen kommunalen Strukturen den Spielraum der Selbstorganisation der Gesellschaft vergrößern.

Die gesellschaftliche Realität in Deutschland bietet viele Möglichkeiten des Aufbaus demokratischer Autonomie. Unzählige Vereine, Netzwerke, Bürgerinitiativen und Parteien kämpfen täglich für demokratische Partizipation und gegen die Zentralisierung der Politik im Staat. Das entscheidende fehlende Element ist oftmals eine gemeinsame Vision und Perspektive, die diese Institutionen unter gemeinsamen Werten vereint und damit einen politischen Ausdruck nach Innen und einen gemeinsamen Kampf nach Außen ermöglicht. Demokratische Autonomien, die auf regionalen und lokalen Kommunen, wie Nachbarschaftsorganisationen und Räten basieren, und sich in einem demokratischen, konföderalen System vereinen, bieten eine solche Vision. Die Vision einer demokratischen Gesellschaft.

Anmerkung der Redaktion: Ein Artikel im Kurdistan Report 227, Mai/Juni 2023, thematisiert konkrete Beispiele der Stadtteilarbeit. Auch veröffentlicht im Contraste Magazin