Einige Gedanken zur globalen politischen Lage
Initiative Demokratischer Konföderalismus, August 2024
„Die größte Katastrophe für eine Gesellschaft ist, die Kraft zu verlieren, über sich selbst nachzudenken und selbstständig zu handeln.“ Abdullah Öcalan
Seit Jahren sehen wir uns mit einer Vielzahl an globalen Krisen konfrontiert. Und alles deutet darauf hin, dass sich diese Entwicklungen von zunehmenden offenen Kriegen, autoritären Regimen, ökologischer Zerstörung und gesellschaftlicher Spaltung entlang von Sexismus und Nationalismus auch weiter verschärfen wird. Dies ist nicht überraschend, denn wir haben es mit einer Krise der gesamten Kapitalistischen Moderne zu tun, die grundlegende Pfeiler des Systems betrifft: die Struktur und Rolle von Nationalstaaten in der Organisation der Gesellschaften, der Produktion und Reproduktion des materiellen Lebens und der kapitalistischen Logik von permanentem Profit, zu Lasten der Natur und des Menschen.
Um erfolgreich diesen vielen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen und eine demokratische Politik zu entwickeln, müssen wir die Dynamiken und Veränderungen verstehen und einordnen lernen. Dabei können uns einige grundlegende Kategorien, Konzepte und Modelle Orientierung bieten. In der folgenden politischen Analyse wollen wir daher auf fünf zentrale Aspekte eingehen und einige der Entwicklungen in Schlaglichtern skizzieren:
1. Wir befinden uns in einem 3. Weltkrieg
2. Es besteht eine Tendenz der Bipolarisierung in einer multipolaren Ordnung
3. Es findet eine „Korridorsierung der Welt“ statt
4. Zunehmende Abkehr der USA von Freihandelsdoktrin
5. Stärkung nationalistischer Kräfte im Zuge des 3. Weltkriegs
Abschluss: Eine demokratische Politik entwickeln
Auch wenn uns diese helfen, einen Zugang zu den Entwicklungen zu finden, sind sie weit davon entfernt, die gesellschaftliche Realität, in der wir leben, abzubilden. Viele Ereignisse und Entwicklungen haben wir ausgespart. Sie mit in die Bewertungen einfließen zu lassen, wird die Aufgabe weiterer Analysen bleiben.
1. In der Zeit eines 3. Weltkriegs
Auch in westlichen Medien und Analysen wird mittlerweile von einem Dritten Weltkrieg gesprochen. Meist jedoch als drohendes Szenario eines offenen Krieges zwischen den Mächten der Welt in der Zukunft. Wir hingehen verstehen den Dritten Weltkrieg nicht nur als weltweiten militärischen Konflikt, in dem die meisten Nationalstaaten involviert sind – auch wenn dies ein durchaus bedrohliches und realistisches Szenario für die Weltgemeinschaft darstellt – sondern vielmehr als den globalen Neuordnungsprozess, der mit dem Ende des Kalten Krieges vor 25 Jahren begann. Neben den vielen militärischen Auseinandersetzungen und der Gewalt (Hard Power), die diesen Neuordnungsprozess ausmachten, fassen wir unter den Begriff auch Wirtschaftskriege, Methoden spezieller Kriegsführung, die auf das Bewusstsein der Menschen abzielen und den sich intensivierenden „Cyber War“ als Krieg im und um den virtuellen Raum (Soft Power). Auch wenn die Auseinandersetzungen im Dritten Weltkrieg überwiegend zwischen Nationalstaaten und anderen Machtmonopolen stattfinden, richteten und richten sich die militärischen Aktionen an vielen Orten auch direkt gegen demokratische und revolutionäre Kräfte, die gegen die bestehende Ordnung aufbegehren. In jedem Fall finden die Auseinandersetzungen auf dem Rücken und zu Lasten der Gesellschaften statt.
Auch wenn wir eine Zunahme von „heißen“ Kriegen auf fast allen Kontinenten sehen und seit dem Golfkrieg 1991 im Mittleren Osten durchgehend Krieg herrscht, liegt der Schwerpunkt des Dritten Weltkrieg aktuell (noch) auf einem ideologischen, logistischen und wirtschaftlichen Krieg.
Als Orientierung lässt sich der Dritte Weltkrieg in vier Phasen unterteilen. Um die aktuelle Situation besser zu verstehen, lohnt es sich, die ersten drei Phasen kurz skizzieren, um auf dieser Grundlage ausführlicher auf die vierte Phase, die aktuelle Situation, einzugehen.
Die erste Phase wurde gekennzeichnet durch den Ausbau der militärischen und politischen Macht der USA in den 1990er Jahren. Durch militärische Einsätze wie den Golfkrieg, entwickelte sich das Bild der USA als „Weltpolizei“. Politisch und wirtschaftlich dominierte die USA durch die von ihr massiv geprägten „Weltorganisationen“ wie die UN, der IWF, die Weltbank etc. Andere Staaten definierten sich über ihr politisches und wirtschaftliches Verhältnis zu den USA.
In der zweiten Phase, deren Übergang mit der Jahrtausendwende einsetzte, fanden weitere Militärinterventionen der USA, wie im Irak und Afghanistan, statt, jedoch zeichneten sich die ersten Niederlagen der USA ab. Der Weltmachtanspruch brach und die vormals unipolare Weltordnung verschob sich in Richtung multipolarer Weltordnung. Anstelle eines machtvollen Zentrums, das der USA, traten eine Reihe von Zentren auf, die zusehends in Konkurrenz zu einander standen. Die noch immer aktuellen Zentren sind Russland, China und die USA. Darüber hinaus entwickelten sich zahlreiche Staaten und Akteure, die ebenfalls in der Weltpolitik mitmischen wollten: die EU (aber auch Frankreich und Deutschland als eigenständige Akteure), Großbritannien, die Türkei und Indien.
Die dritte Phase begann mit dem so genannten „Arabischen Frühling“, oder passender bezeichnet als „Frühling der Völker“. Nach dem ersten Aufstand am 17. Dezember 2010 in Tunesien kam es vielerorts in Nordafrika und dem Mittleren Osten zu Aufständen, die teilweise zu sehr tiefgreifenden positiven und radikalen Veränderungen der Machtverhältnisse führten. Einige der Konflikte, die als Auseinandersetzung zwischen Regierung und Zivilgesellschaft begannen, entwickelten sich durch Interventionen von globalen und regionalen Mächten zu langanhaltenden Konflikten und Bürgerkriegen wie in Syrien, Jemen, Irak und Libyen.
Die vierte, aktuelle Phase ist vor allem von der Auseinandersetzung über Energie- und Logistikkorridore gekennzeichnet. Der indische Analyst Dr. N. Janardhan, der in den USA für verschiedene Think Tanks arbeitet, fand die dafür passende Bezeichnung „Korridorisierung der Welt“. Insbesondere versuchen die zentralen globalen Akteure, aber auch regional aufsteigende Nationalstaaten, in wechselseitigen Allianzen konkrete Korridore und Handelsrouten, verbunden mit Infrastrukturprojekten, auszubauen und unter die eigene Kontrolle zu bringen.
Bevor wir auf einige dieser Projekte und deren Implikation schauen, wollen wir auf die allgemeine Tendenz der Bipolarisierung in einer multipolaren Ordnung eingehen, die sich insbesondere im letzten Jahr deutlich abzeichnet und zentral für politischen Entwicklungen ist.
2. Tendenzen der Bipolarisierung in einer multipolaren Ordnung
Innerhalb der noch immer gültigen multipolaren Weltordnung zeichnet sich eine Tendenz zur Bildung von zwei Blöcken ab. Die aktuelle politische Lage ist also gekennzeichnet durch eine bipolare Tendenz in der multipolaren Weltordnung. Beide Blöcke charakterisiert der Anspruch auf die Kontrolle über weltweite Organisationen und Systeme. Und in dieser Tendenz ordnen sich immer mehr Staaten auf der einen oder der anderen Seite ein.
Nach wie vor erscheint der westliche Block als dominant. Fest integriert sind in diesem die USA an erster Stelle, die meisten europäischen Staaten, Israel, Japan, Australien und Südkorea. Aber auch einzelne andere Staaten, wie zuletzt Argentinien nach dem Regierungswechsel zum neoliberalen Hardliner Javier Milei, haben sich klar positioniert und auch organisatorisch im Westen verankert. Das Militärbündnis NATO, die EU, aber auch die vielen UN-assoziierten Weltorganisationen, sind eher mit dem Westen verbunden. Die zentrale Währung für diesen Block stellt noch immer der Dollar dar.
Die andere Seite hat sich in den letzten Jahren gestärkt und konkrete Bündnisse und Organisationen ausgeprägt. Kern darin ist das Dreieck zwischen China-Russland-Iran. Eindeutig sichtbar wurden die Blöcke bei Abstimmungen im Rahmen der Vereinten Nationen oder anderen internationalen Zusammenkünften. Wie beispielsweise beim internationalen Ukraine-Friedensgipfel am 15. und 16. Juni im schweizerischen Bürgenstock. Selbst eine recht schwammige Abschlusserklärung, in der von einer Verurteilung Russlands abgesehen wurde, wurde von den Staaten Brasilien, Saudi-Arabien, Indien, Südafrika, Thailand, Indonesien und den Vereinigten Arabischen Emirate nicht unterschrieben. Diese Liste der sich gegen die Erklärung stellenden Staaten zeigt bereits die offensichtliche Überschneidung mit den BRICS-Staaten, (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) und den Staaten, die mit diesen assoziiertet sind. Die BRICS hatten sich im August 2023 in Johannesburg, Südafrika, von sechs auf neun Länder um den Iran, Äthiopien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien erweitert. Weitere Beitritte sollen folgen. So wirbt der russische Präsident Putin bereits seit einiger Zeit offensiv beim türkischen Außenminister Hakan Fidan für einen Beitritt der Türkei. Aber auch Staaten wie Malaysia stehen in den Startlöchern, sich dem Verbund anzuschließen.
Mit der letzten Erweiterung macht nun die BRICS bereits 42% der Weltbevölkerung und 36% der globalen Wirtschaftsleistung, gemessen am BIP, aus. Angesichts dieser Größe bestehen Bestrebungen, ein zum Westen alternatives Weltsystem aufzubauen. Als Gegenmodell zur Weltbank betreiben die BRICS-Staaten bereits jetzt die New Development Bank (NDB). Diskussionen über eine eigene Leitwährung, eigene Finanztransaktionssysteme und auch über einen neuen Entwurf der Menschenrechte werden geführt. So kritisierte China öffentlich die UN-Menschenrechtscharta als durch den Westen geprägt und formulierte eigene Vorschläge.
Neben dem noch recht losen BRICS-Zusammenschlusses besteht die „Shanghaier Gruppe“. Ihre Mitglieder sind China, Iran, Indien, Russland, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Usbekistan und Pakistan, die sich auf eine engere gemeinsame Ausrichtung ihrer Politik zusammengeschlossen haben. Trotz vieler Widersprüche zwischen einzelnen Staaten wie zwischen China und Indien, oder Indien und Pakistan, gibt es dennoch die Tendenz, sich verbindlicher als fester Zusammenschluss zu organisieren.
Neben den Staaten, die sich bereits klar auf einer der Seiten positionierten, existieren einige Staaten, die noch recht unabhängig agieren und, obwohl in westliche Bündnisse eingebunden, sich von der Tendenz auf den neuen Block zubewegen. Zu diesem zählt u.a. Indien, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Eine besondere Rolle spielt dabei die Türkei. Obwohl fester Bestandteil des westlichen Blocks, nicht zuletzt durch ihre NATO-Mitgliedschaft, nähert sie sich immer wieder dem Block um China und Russland an und schmiedet neue Abkommen. Wir können davon ausgehen, dass gerade diese vier Staaten (die Türkei, Indien, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate) durch ihre flexible Außenpolitik und das Umworben werden, von beiden Machtblöcken jeweils ihre Machtposition stärken werden.
Doch die Tendenz zur Bipolarität sollte nicht über die Widersprüche innerhalb der Blöcke hinwegtäuschen. So bestehen auch tiefe Spannungen zwischen z.B. den USA und der EU. Seit Jahren drängen Kräfte innerhalb der EU auf eine eigenständigere Politik gegenüber den USA, um sich als eigene Macht im internationalen Wettbewerb zu behaupten und die zukünftige Ordnung zu gestalten.
3. Die „Korridorisierung der Welt“
Chinas Projekt – Die Neue Seidenstraße
Eines der bekannteren Projekte ist die von China im Jahr 2013 ins Leben gerufene „Belt and Road Initiative“, die auch als „Neue Seidenstraße“ bezeichnet wird. Der Name nimmt Bezug auf die seit der Antike bestehenden Handelsrouten zwischen Mittelmeerraum und Ostasien, die als Seidenstraße bezeichnet wurden.
An dem Projekt sind insgesamt 150 Länder beteiligt. Davon auch einige europäische Länder, wie Portugal, Italien und viele osteuropäische Länder. Indien und die Hauptakteure im westlichen Block wie die USA oder auch Frankreich und Deutschland, sind nicht Teil der Initiative. Die „Belt and Road Initiative“ bezeichnet nicht ein oder mehrere einzelne Bauprojekte, sondern ein riesiges Geflecht an Infrastrukturprojekten. Finanziert werden die Projekte durch den „Seidenstraßen-Fonds“, die Asiatische-Infrastrukturinvestmentbank (AIB) und die New Development Bank. Alle drei haben ihren Sitz in China und stehen stark unter dessen Einfluss.
Chinas Initiative für die „Neue Seidenstraße“ kann auch als Reaktion auf die Seidenstraßenstrategie der USA, die auf den Geostrategen Zbigniew Brzeziński zurückgeht und im Jahr 1999 verabschiedet wurde, verstanden werden. Erklärtes Ziel der Strategie der USA war es, die eigen Position in der Region zu stärken und den Einfluss von Russland und China zu kontrollieren. Entgegen den öffentlich propagierten Zielen beider Initiativen – im Falle der US-Strategie der Demokratisierung des Ostens, als auch im Falle Chinas der Verbesserung der Versorgung der Weltgemeinschaft – geht es um klare Machtinteressen.
Die „Global Gateway Initiative“ als Antwort der EU
Viele der geplanten Routen der Neuen Seidenstraße ziehen sich durch Russland. Aufgrund der geopolitischen Spannungen mit Russland widerspricht dies dem Interesse des Westens. Dieser versucht, den Verlauf der Routen in Richtung Süden zu verlegen um sie der direkten Kontrolle Russlands zu entziehen.
So lässt sich die europäische „Global Gateway Initiative“ als Reaktion auf den Vorstoß Chinas mit der Neuen Seidenstraße interpretieren. Es geht um die Durchsetzung der eigenen wirtschaftlichen Interessen in der Region. Denn an dem chinesischen Mega-Projekt sind kaum europäische Unternehmen beteiligt, sie gingen bei den Ausschreibungen weitgehend leer aus. Die „Global Gateway Initiative“ ist vor allem als Fond für Infrastrukturprojekte von geostrategischer Bedeutung, in dem 300 Milliarden Euro bereitgestellt wurden, die in den Bereichen Digitales, Energie und Verkehr investiert werden sollen. Schwerpunktregionen sind dabei in Europa und Asien, aber auch in Abya Yala (Lateinamerika).
„International North-South Transport Corridor“ (INSTC)
In den globalen Machtkonstellationen spielt Indien eine wichtige Rolle. Involviert in westliche Bündnisse und gleichzeitig in Annäherung an den Block um China und Russland, bewegt sich Indien zwischen den Polen. Es ist nicht Teil der Initiative der Neuen Seidenstraße und verfolgt immer wieder auch von China unabhängige Pläne. So forcierte Indien die Realisierung des „International North-South Corridor“ (INSTC) als Verkehrsverbindung zwischen Mumbai in Indien und Moskau in Russland. Mit der fertiggestellten Route, die von Indien über den Iran und Aserbaidschan verläuft, sollten die Transport und Handelskosten verringert werden. Gleichzeitig verringerte sich mit ihr auch die mögliche Kontrolle durch europäische Staaten, da die Route durch weniger von Europa dominierte Regionen läuft.
North South Transport Corridor (NSTC), Wikpedia
India-Middle-East-Europe Economic Corridor (IMEC)
Indien ist aber auch in ein westlich dominiertes Infrastrukturprojekt involviert, in den India-Middle-East-Europe Economic Corridor (IMEEC). Ins Leben gerufen wurde das Projekt auf dem G20-Gipfel am 9. und 10. September 2023 in Neu-Delhi, Indien. Mitglied des Projektes sind als treibende Kräfte die USA, Deutschland, Frankreich, Italien und die Europäische Union sowie die Länder, durch die der Korridor gehen soll: Indien, Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate und Jordanien.
Die anvisierte Route geht von Mumbai aus über die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien zum Hafen von Haifa in Israel. Von dort nach Piräus in Griechenland, über Osteuropa bis nach Hamburg. Es geht um Schienen und Schiffsverbindungen, aber auch um Pipelines und Datenkabel entlang der Route. Der Beschluss zur Umsetzung des IMEECs hatte weitreichende Auswirkungen auf die politischen Entwicklungen.
Der türkische Präsident Erdogan, der ebenfalls am Treffen in Neu-Delhi teilnahm, verlautete bereits auf dem Rückflug: „Einen Korridor ohne die Türkei wird es nicht geben. Die geeignetste Strecke für die Ost-West-Verbindung führt durch die Türkei.“ So unterstrich er den Anspruch der Türkei auf Teilnahme und Mitkontrolle beim zunehmen Ausbau der Handelsrouten.
Die „Iraq Development Road“ als Antwort Erdogans
Diesen Worten versucht die Türkei Taten folgen zu lassen und setzt ein Projekt vom Persischen Golf über den Irak in die Türkei und von dort nach Europa als Alternative zum IMEEC um. Direkt involviert sind dabei die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, der Irak und eben die Türkei. Zur Umsetzung führte die Türkei intensive diplomatische Gespräche mit den beteiligen Ländern.
Doch auch militärisch versucht die Türkei die Kontrolle über Regionen des geplanten Korridors im Abschnitt des Iraks zu gewinnen. Dafür weitete sie in den letzten Monaten die Angriffe auf die Volksverteidigungseinheiten der PKK im Irak weiter aus und intensivierte den Terror gegen die lokale Zivilbevölkerung, die in Opposition zum türkischen Einfluss auf die Region steht.
Für die Realisierung des IMEECs haben die politischen Entwicklungen in Israel und Palästina weitreichende Folgen. Denn so lange die Sicherheitslage in Israel angespannt ist, lässt sich ein entscheidender Abschnitt des IMEEC nicht umsetzen. Somit profitiert nicht zuletzt auch die Türkei von der Eskalation des Krieges in der Region. Duran Kalkan, Mitglied des Exekutivrat der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), der die politische Situation in der Region aufmerksam verfolgt, erklärte im November 2023: „In ähnlicher Weise hat er [Erdogan] die Hamas dazu gebracht, Israel anzugreifen und so einen Krieg auszulösen. Der türkische Staat tut das, um die Region unsicher zu machen und zu erreichen, dass die Energieversorgungsroute durch die Türkei geführt wird.“
In diese Einschätzung passt, dass die Türkei die Hamas nicht als Terrororganisation ansieht, sondern als Widerstandsgruppe bezeichnet. Ismail Hanija, bis zu seiner gezielten Tötung durch Israel Chef der Hamas, war oft in der Türkei und erhielt einen türkischen Pass. Immer wieder fanden Treffen zwischen türkischen Offiziellen und verschiedenen Ebenen der Hamas statt und viel Geld der Organisation wurde über Konten in der Türkei bewegt. So liegt es nahe, dass die türkische Regierung Einfluss auf die politischen Entscheidungen der Führungsebene der Hamas nahm und weiterhin nimmt. Gleichzeitig muss auch die Härte Israels im Krieg in Gaza in dem Zusammenhang gesehen werden, dass es ein starkes Interesse des westlichen Blocks gibt, IMEEC zu realisieren und ggf. über einen militärischen Sieg über die Hamas Stabilität zu erreichen.
Und auch der zunehmende militärisch eskalierende Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah hängt mit der Realisierung des IMEEC zusammen. Die israelische Hafenstand Haifa, an dem die Waren von der Schiene auf Schiffe verladen werden sollen, liegt in unmittelbarer Nähe zur libanesischen Grenze, die von der Hisbollah kontrolliert wird.
Bereits im Mai musste der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar einräumen, dass die Entwicklungen in der Region „definitiv eine Quelle der Besorgnis für uns [sind], und die Erwartungen, die wir bei der Unterzeichnung der Vereinbarung im September hatten, mussten wir ein wenig anpassen“. Er hält jedoch an der Umsetzung weiter fest: „Wir nehmen die Sache [IMEEC, A.R.] sehr ernst und stehen miteinander im Austausch. Es muss nicht alles sofort klappen, damit etwas in Gang kommt. Wo immer wir etwas in Bewegung setzen können, werden wir es tun“.
Und so besichtigten im Mai 2024 indische Wirtschaftsvertreter Häfen in den Vereinigten Arabischen Emiraten, um ihre Integration in das IMEEC zu konkretisieren. Und auch von französischer Seite wird mittlerweile die Realisierung durch einen Sondergesandten vorangetrieben. Dieser sprach sich dafür aus, nicht auf ein Ende des Krieges in Gaza zu warten, sondern an anderen Abschnitten der Route bereits mit dem Bau zu beginnen.
Korridore und Mega-Projekte in Abya Yala
Doch nicht nur zwischen Asien und Europa spielen die geplanten Korridore entscheidende Rollen in den politischen Entwicklungen. Auch in Abya Yala (die vorkoloniale Bezeichnung des amerikanischen Kontinents) gibt es eine Vielzahl von Initiativen und einen Wettstreit der großen Mächte um die verschiedenen Routen.
Zentral sind dabei Projekte, die den Ausbau weiterer direkter Schiffsverbindungen zwischen dem Pazifik und Atlantik zum Ziel haben. Denn durch das immer stärkere Absinken der Wassermenge im Panamakanal, nicht zuletzt als Folge der Klimaveränderungen, verringert sich die Anzahl der möglichen Schiffe, die den Kanal passieren können. Entsprechende Projekte, wie u.a. in Guatemala oder Nicaragua, umfassen somit Kanäle, aber auch Bahntrassen, deren Realisierung darüber hinaus mit enormer Industrialisierung der Regionen verbunden sein wird. Geplant sind großflächige Anlagen für s.g. Erneuerbare Energien. Hauptinvestoren in diese Projekte sind derzeit China und die USA. Gerade in Mexiko beansprucht die USA ihren Einfluss, auch wenn China versucht, auch dort stärker zu werden. Und auch die EU, bzw. einzelne EU-Staaten, versuchen ihren Einfluss und Gewinn durch Investitionen in Mittelamerika zu sichern.
Ein weiterer Schwerpunkt von internationalen Investitionen liegt auf dem Aus- und Aufbau von Häfen, die für den Export von Agrarprodukten und Rohstoffen, und zunehmend von Wasserstoff, entscheidend sind. Gerade die deutsche Regierung schließt eine Wasserstoffkooperation nach der anderen ab, zuletzt mit Kolumbien, Brasilien und Mexiko. Doch der Export von Wasserstoff erfordert eine besondere kostenintensive Infrastruktur, die durch die entsprechenden Projekte realisiert werden soll.
Ein aktuelles Projekt ist dabei der Bau eines neuen Tiefwasserhafen in Alcantara im Norden Brasilien. Geplant ist von dort der Export von Soja, Erzen und Wasserstoff. Dieses Projekt „Grão Pará Maranhão“ (GPM) ist verbunden mit dem Bau einer 520 km langen Eisenbahntrasse. An dem Projekt sind sowohl China, die EU, USA und nicht zu letzt die Deutsche Bahn beteiligt.
4. Zunehmende Abkehr der USA von Freihandelsdoktrin
Ein weiterer Aspekt der aktuellen Phase des Dritten Weltkriegs ist ein zunehmender Wirtschaftskrieg. Die USA verhängt aktuell einen Strafzoll auf chinesische Produkte: 25 Prozent auf Stahl und Aluminium, 50 Prozent auf Halbleiter, 50 Prozent auf Solarpaneele, und 100 Prozent auf Elektrofahrzeuge. In dem Zusammenhang lässt sich in der Rhetorik in den USA ein Schwenk von der Freihandelspolitik zur Geopolitik erkennen. Immer weniger Staaten bekennen sich zu dieser Doktrin, und ein Ende des Zeitalters neoliberaler Freihandelspolitik scheint eingeleitet. Der schwindende Einfluss entsprechender Parteien in den Parlamenten, die national und international eine klassische Freihandelspolitik vertreten, wie in Deutschland die FDP, kann in diesen Trend eingeordnet werden.
Doch in den letzten Jahrzehnten hat China die von den USA federführend propagierte Freihandelsdoktrin weit stärker betrieben als diese selbst. Denn angesichts der wirtschaftlichen Entwicklungen in China profitiert chinesisches Kapital zunehmend von dem uneingeschränkten Zugang zu globalen Märkten. So dominiert China mittlerweile zu 80% den Markt für Solarmodule, 60% der Windturbinen sowie 60% der Elektrofahrzeuge. Im zunehmenden Handelskrieg kritisieren die EU und USA China nun für wirtschaftspolitische Maßnahmen und Praktiken, die sie selbst Jahrzehnte lang praktizierten.
Im Gegensatz zur USA hat die Freihandelspolitik in der EU noch eine stärkere Basis, und die Reflexe gegen staatliche Eingriffe in die Wirtschaft, wie durch Forderungen von Neuverschuldung und Regulierungen der Privatwirtschaft, wird kritischer gesehen. Das Freihandelsparadigma ist weit tiefer in die europäische Gesetzgebung und politischen Regeln gegossen worden. Somit tritt zunehmend das eigene Paradigma in einen Widerspruch zu einigen wirtschaftlichen Interessen und Notwendigkeiten. Aufgrund dieser Hindernisse ist die EU aktuell nicht in der Lage, dynamisch industriepolitische Maßnahmen zu treffen. Die weitere Entwicklung innerhalb der EU wird auch von den Erfolgen der verschiedenen parteipolitischen Fraktionen abhängen.
Zusammengefasst gibt es gerade weltweit eine Parallelität zwischen staatlich gesteuerter Handelspolitik im Zeichen der Geopolitik und marktradikaler Austeritätspolitik (Sparpolitik zu Lasten der Armen). Manche Staaten vertreten beide, eigentlich widersprüchliche Ansätze, zur gleichen Zeit.
Die vierte Phase des Dritten Weltkrieg ist also vor allem von wirtschaftlichen und ideologischen Auseinandersetzungen geprägt. Gleichwohl spielt darin die Vorbereitung auf weitere militärische Auseinandersetzungen eine zentrale Rolle.
5. Stärkung nationalistischer Kräfte im Zuge des 3. Weltkriegs
Zwei konkurrierende Pole im 3. Weltkriegs
In dieser Phase der Krise suchen verschiedene Kräfte nach Antworten und Auswegen. Am deutlichsten treten sich dabei zwei Kräfte gegenüber: Zum einen Kräfte, die versuchen den Status Quo, die internationale Ordnung starker Nationalstaaten, aufrechtzuhalten. Sie stützen sich auf national-verankertes Kapital und ihre Wirtschaftsinteressen und bedienen sich nationalistischer Diskurse und Politiken. Sie versuchen, das Konzept starker Nationalstaaten gegen Tendenzen ihrer Auflösung in größere Zusammenhänge zu verteidigen. Sie versuchen, Stabilität und Ordnung zu vermitteln und knüpfen an konservative Einstellungen an. Ihnen stehen Kräfte gegenüber, die sich stärker auf eine globale Ebene und Ordnung fokussieren. In ihrem Mittelpunkt stehen multinationale Konzerne und internationale Organisationen. Sie denken globaler und richten ihre Politik auf einer Schwächung nationalstaatlicher Gebilde aus. Ihr Versprechen war eine Lösung z.B. der Klimakrise durch einen „Green New Deal“, der Erneuerung des Kapitalismus durch massive Investitionen und auszuschöpfender Profite im Bereich s.g. Erneuerbaren Energien oder Handelszertifikate auf Emissionen.
So widersprüchlich diese Kräfte auch wirken mögen, in unserer Analyse sind sie nur zwei Seiten einer gleichen Medaille. Beiden geht es um den Ausweg für ein System von Macht, Profit und Zerstörung. Beide stellen sich nicht grundsätzlich gegen die Logik von Profitmaximierung, sondern vertreten nur unterschiedliche Kapitalinteressen. In ihrem Kampf um politische Mehrheiten in der Gesellschaft polarisieren und spalten sie und drängen die Gesellschaft in eines ihrer Lager. So sind sie weit davon entfernt, wirkliche Lösung zu sein. Und so sind sie auch weit davon entfernt, wirkliche gesellschaftliche Lösungen für die Probleme zu präsentieren und umzusetzen.
Wahlen in Europa – Aufschwung nationalistischer Kräfte
Auch wenn es in Skandinavien durch den Wahlerfolg linker, sozialistischer Parteien einen Positivtrend gibt, zeigt die Europawahl weitere Zugewinne für nationalistische Parteien. In den letzten Jahren konnten sie sich in der europäischen Parteienlandschaften fester verankern.
Die Ergebnisse der Europawahl zeigten dies deutlich: Die Partei von Marine Le Pen „Rassemblement National“ erreichte 31,5% der Stimmen in Frankreich. Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni mit der Fratelli d’Italia 29% und die Alternative für Deutschland (AFD) 16%). Stärkste Kraft wurden Parteien der äußersten Rechten zudem in Österreich (FPÖ, 25,7 Prozent) und in Belgien (Vlaams Belang, 14,5 Prozent), während sie sich beispielsweise in den Niederlanden (PVV/Geert Wilders, 17,7 Prozent) oder in Rumänien (Allianz für die Vereinigung der Rumänen, 14,9 Prozent) auf Platz zwei, in Spanien (Vox, 9,6 Prozent) oder auch Portugal (Chega, 9,8 Prozent) auf Platz drei wiederfanden.
Ausweitung und Integration des nationalistischen Pols und der Abschied vom Green New Deal
Spätestens nach der Europawahl gibt es keine feste „Brandmauer“ auch konservativer Parteien zu den nationalistischen Kräften mehr. Galten sie noch als „Bedrohung der Demokratie“, sind sie nun fester Bestandteil. Diese Integration, aber auch die Ausweitung des Einflusses der nationalistischen Kräfte, hängt ebenso mit ihrem Ablassen von einer aggressiven Anti-EU-Position zusammen.
Sehr deutlich wurde das im Falle von Le Pen und Meloni. Etablierte politische Kräfte, oft als „die Mitte“ im Spektrum politischer Positionen bezeichnet, symbolisiert durch Kommissionspräsidentin von der Leyen, akzeptierten in dieser Form auch die rechten, nationalistischen Kräfte. Sie dienen dem Machterhalt.
Die Konsequenzen dieser Verschiebungen der letzten Jahre, hin zum stärker werdenden Einfluss von nationalistischen Kräften gegenüber global agierenden Kräften, bedeutet konkret auch die Aufkündigung des s.g. „Green New Deal“, oder die Umsetzung von schärferen Abwehrmaßnahmen gegen Flüchtlinge. In vielen Positionen treiben die rechten, nationalistischen Kräfte andere vor sich her. In Frankreich – oder auch in Deutschland – verfallen Konservative in die Rhetorik der Rechten und machen Politik in ihrem Sinne. Dieser Schwenk zur Europapolitik nationalistischer Kräfte ist derzeit verbunden mit einer stärker werdenden Betonung und Notwendigkeit des Schutzes der europäischen Werte und Identität. So spannt sich die Klammer der rassistische und nationalistische Einstellungen, über neuere nationalistische Kräfte und den etablierten politischen Spitzenfunktionären der EU.
Eine Abkehr vom „Green New Deal“ scheint es auch in Deutschland zu geben. Viele hatten an einen Durchmarsch des Grünen Paradigmas samt Grünen Kapitalismus und s.g. feministischer Außenpolitik geglaubt. Doch das Ifo-Institut stellt für Deutschland mittlerweile fest, dass es einen Politikwechsel hin zu Pragmatismus und Wettbewerbsfähigkeit gebe. Klimaschutz und Regulierung hätten ausgedient.
Zunehmende Unterstützung nationalistischer Kräfte durch das Großkapital
Bisher wurde die AFD weitestgehend finanziell von Kleinunternehmern und dem Mittelstand getragen. Die Export- und Großindustrie hielt sich zurück. Doch die Stimmen aus den Chefetagen multinationaler Konzerne und Institutionen werden diesen Kräften wohlgesonnener und die Diskurse anschlussfähiger. So schimpfte Theodor Weimer, Vorstandsvorsitzende der Deutschen Börse, im April gegen das vermeintliche „Gutmenschentum“ in der deutschen Asylpolitik und fand damit gerade in Kreisen der AfD großen Widerhall.
Um die Entwicklungen nationalistischer und faschistischer Kräfte zu analysieren, sind es gerade Aussagen aus den Chefetagen multinationaler Konzerne, die betrachtet werden sollten. Sie sind Gradmesser für den Trend dieser Kräfte wie der AfD, von gesellschaftlich marginalisierten zu dominanten und mehrheitsfähigen Positionen zu werden. In der Vergangenheit waren die Machtübertragungen an faschistische Kräfte wie der NSDAP nur durch die Unterstützung der zentralen Finanzunternehmen und der Schwerindustrie möglich.
Abschluss: Eine demokratische Politik entwickeln
Die Krise der kapitalistischen Moderne bietet große Gefahren, aber auch Möglichkeiten. Zentral ist jedoch, eine eigene Politik zu entwickeln. Es gilt in der zunehmenden Blockbildung der multipolaren Weltordnung, als auch in den polarisierenden Lagern nationalistischer und globalistischer Kräfte, einen eigenen Weg zu skizzieren. Weder dürfen sich die demokratischen und revolutionären Kräfte auf die Seite einer der Blöcke stellen (wie NATO vs. Russland; Hamas vs. Israel), noch in eines der Lager (wie Grüne vs. AfD) drängen lassen. Es bedarf starker regionaler Identitäten, verbunden mit Land und Gesellschaft, in gleichzeitiger Liebe und Verantwortung für die Menschheit an sich. Es bedarf des Endes der fossilen Brennstoffe zum Schutz von Mensch und Natur, ohne die Erneuerung der kapitalistischen Ausbeutung durch vermeintlich grüne Energie. Wir brauchen einen starken Frieden zwischen den Gesellschaften und nicht die Parteinahme auf die Seiten der Staaten.
Diese Positionen sind bereits jetzt für viele demokratische und revolutionäre Kräfte weltweit die politischen Linien, an denen sie sich orientieren. Wir fassen sie zusammen als Paradigma eines ökologischen Lebens, der Befreiung der Geschlechter von Macht und Dominanz und radikaler Demokratie. Als ein Geflecht demokratischer Gemeinschaften, Institutionen und einem demokratischen Geist, in der sich die gesellschaftliche Selbstverwaltung, Selbstversorgung und Selbstverteidigung entwickeln kann. Darin sehen auch wir, unabhängig verschiedener Blöcke und Pole, die um ihren Einfluss und Macht kämpfen, eine Lösung der gesellschaftlichen Probleme.