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500 Jahre – Aufstieg und Niedergang der kapitalistischen Moderne

Eine Reihe der Initiative Demokratischer Konföderalismus (IDK)

Artikel zuerst veröffentlicht im Kurdistan Report, Nr. 23, November/Dezember 2023.

Das Wissen über die Geschichte ist unsere Grundlage im Verständnis des heutigen historischen Zeitpunkts und lässt uns verstehen, wie eine radikal demokratische, geschlechterbefreite und ökologische Zukunft aufgebaut und verteidigt werden kann. Im Rahmen einer Artikelreihe im Kurdistan Report wollen wir aspektorientiert die letzte 509 Jahre der Angriffe auf die Gesellschaft darlegen und alte sowie neue Perspektiven auf das demokratische Potenzial in der deutschen Gesellschaft aufzeigen. Wir sind überzeugt, dass eine ganzheitliche historische Analyse Teil einer komplexen Veränderungsgrundlage sein wird, die uns in die Lage versetzt, die demokratische Moderne aufzubauen und damit der Zerstörung entgegenzuarbeiten, die die kapitalistische Moderne weltweit verursacht hat. In einer persönlichen Einführung beschreibt eine Freundin der »Initiative Demokratischer Konföderalismus« im ersten Artikel der Reihe einen Weg, uns der Geschichte in Europa anzunähern.

Die dörfliche Realität

Als ich 18 Jahre alt wurde, war es endlich so weit: Weg vom Land! Raus in die Stadt! Nichts wünschte ich mir sehnlicher als die Freiheit der Großstadt. Monatelang googelte ich nach Studienplätzen, aber suchte auch nach feministischen Aktivitäten, von denen ich Teil werden konnte. Damals war das für mich eine neue Welt, denn Politik bei uns im Dorf war erstens fast ausschließlich Männersache, zweitens nur geduldet für diejenigen, die schon über Generationen dort lebten, und drittens größtenteils eine Frage von Windrädern, die mich nicht interessierte.

Ich verschwendete keinen Gedanken daran, dass ich Familie und Freund:innen hinter mir lassen würde. Für mich gab es keine lang verwurzelten Verwandten im Ort, lediglich Eltern und ein Geschwisterkind, das ebenso die Flucht antreten würde. Die meisten meiner Freund:innen kannte ich aus der Schule, die eine halbe Stunde entfernt von meinem Wohnort lag. Der befreundete Rest war ein zusammengewürfelter Haufen aus Dorf-Kids, die sich trafen, um nachts in das Freibad einzubrechen, mit Schlüssel natürlich, weil einer von uns Sohn der Bürgermeisterin war, um zu Schlagerpartys zu gehen oder um »Hunderunden« zu drehen. Einige blieben für die Ausbildung im Dorf, andere gingen deswegen, aber die meisten würden bald wiederkommen. Ich meinte, darüber hinausgewachsen zu sein, mehr und anderes zu wollen.

In der Stadt angekommen fühlte ich mich erschlagen von dem großen Angebot. Staunend lief ich durch die Straßen und begutachtete jedes Plakat aufmerksam, da eine Lesung mit einem Berliner Autor, dort eine große Party und irgendwo anders eine Theateraufführung von Schüler:innen eines der lokalen Gymnasien; wie sollte ich mich bei dieser Angebotsvielfalt und ungestillter Neugier da entscheiden?

Nun wohne ich fast sechs Jahre hier, bin an den Stadtrand gezogen, um schneller auf den Wiesen und Feldern sein zu können. Viele meiner Freund:innen hier beschweren sich, so weit fahren zu müssen, doch ich genieße die kleine Radtour in die und aus der Innenstadt. Ich bin in einer Stadtteilinitiative aktiv, weil ich überzeugt bin, dass die Stärkung von gemeinschaftlichen Strukturen in der Nachbarschaft essentiell für eine radikaldemokratische Revolution ist.

Meinen Blick auf gesellschaftliche Prozesse verändert hat auch die Organisierung bei der »Initiative Demokratischer Konföderalismus«. »Wir«, die »IDK«, sind eine von der Freiheitsbewegung Kurdistans inspirierte Organisation, die deren drei Grundpfeiler Basisdemokratie, »Geschlechterbefreiung« und Ökologie im deutschen Raum verwirklichen möchte. Die Geschichten von internationalistischen und kurdischen Genoss:innen ließen mich aufhorchen: Dort komme man bei einem Besuch nicht um Essen und Trinken herum, dort sei es selbstverständlich, sich bei der Ernte zu unterstützen, dort habe der politische Kampf vor allem in Gesprächen mit Familien bestanden.

Die Beschäftigung mit dem Kampf in Kurdistan ließ mich meine bisherigen Bilder von Dörflichkeit und Entwicklung radikal hinterfragen, denn es waren die noch vorhandenen gemeinschaftlichen Strukturen, welche vor allem in Rojava das Fundament für die heutige Organisierung unter dem Paradigma des Demokratischen Konföderalismus legten.

Ich denke nun häufiger an »mein« Dorf zurück. Wie wäre es, dort wieder zu leben? In meinem Stadtteil wie im Dorf sind wir weit von der Selbstorganisation entfernt. Wie sollen wir auch selbst über unsere Leben entscheiden können, wenn die Wohnungen, in denen wir leben, einem großen Immobilienkonzern gehören und drei Viertel unserer Zeit dem Arbeitgeber? Viele feministische oder antirassistische Erfolge landen hierzulande auf den Plakaten von großen Modeketten oder in Form von Regenbogen-Fahnen vor Supermärkten. Auch ökologische Lebensstile werden durch veganen Wurstersatz und plastikfreie Zahnpasta unterwandert. Sozialökologische Landwirtschaft scheint eine gute Idee, doch fehlen in der Stadt und auf dem Land die Flächen. Eine Freundin, die in der Landwirtschaft arbeitet, erzählte mir kürzlich, wie schwierig es sei, an Boden zu gelangen, da dieser oftmals in den Händen von Großgrundbesitzern sei oder streng durch staatliche Vorgaben kontrolliert werde, Boden also, der der kapitalistischen Verwertungslogik unterliegt.

Deutschland ist nicht nur geographisch nicht Kurdistan, so viel steht fest. Und dennoch wurde ich stutzig bei den romantischen Erzählungen aus Kurdistan der Genoss:innen. Waren das nicht Erfahrungen, die ich zumindest teilweise im eigenen Stadtteil gemacht hatte? Kürzlich lud mich eine Nachbarin bei meinem ersten Besuch zu Baklava ein und ich nehme regelmäßig am durch Nachbarinnen getragenen Frauenfrühstück teil. Immer wieder denke ich auch an meine Kindheit und Jugend zurück. Ich erinnere mich an jährliche Dorffeste, bei denen wir Kinder die Erwachsenen mit Getränken und Essen ausstatteten und dafür ihren Geschichten lauschten. Ich erinnere mich an die Grundschule, in der ich von jedem Kind wusste, wo es wohnte und wer seine Eltern waren. Ich erinnere mich an Spielen auf der Straße und an Verstecke im Maisfeld – alles Überbleibsel eines funktionierenden Dorflebens.

Bei der IDK beschäftigen wir uns seit etwa zwei Jahren damit, diesen Fragen im gesellschaftlichen Leben näher auf den Grund zu gehen. Auslöser war dabei auch die Feststellung, dass sich 2025 die Niederschlagung der Aufstände der Bäuerinnen und Bauern zum 500sten Mal jähren werden. Das sind 500 Jahre, die Dörfern dieser Welt, ausgehend von Europa, große Zerstörung gebracht haben. Wir müssen diese Geschichte verstehen, um herauszufinden, wie wir eine Praxis für die Entwicklung einer demokratischen Moderne in Deutschland entfalten können.

Die Zerstörung der dörflich-agrarischen Gesellschaft

Was aber führte zu der Zerstörung der dörflich-agrarischen Gesellschaft in Europa? Die dörflich-agrarische Gesellschaft ist eine Analyse-Einheit, die wir von Abdullah Öcalan übernommen haben. Sie bezeichnet ein gemeinschaftliches Zusammenleben unter den Prämissen von politischer Selbstverwaltung, z. B. in Form von Versammlungen auf zentralen Plätzen, von Selbstversorgung und der Fähigkeit, sich selbst zu ernähren, sowie von moralischer und militärischer Selbstverteidigung vor Angriffen. Öcalan verortet die ersten Angriffe auf die dörflich-agrarische Gesellschaft vor 5000 Jahren. Damals entstanden das Patriarchat und die Klassengesellschaft. Dennoch blieben wichtige Elemente der dörflich-agrarischen Gesellschaft bestehen. Wir recherchierten in historischer und zeitgenössischer Literatur, lernten alte Lieder und gingen in den Austausch mit kulturellen Gruppen wie Friesen und Sorben. So lernten wir durch die Erzählungen der Alteingesessenen, unserer Eltern und Großeltern die Geschichten der Dörfer kennen, von den Bäuerinnen und Bauern und dem Land selbst, deren Geschichten unsere jetzige Landschaft gestaltet haben. Wir hörten auch die Geschichten der Städte, aus den Mündern von Migrant:innen, sahen sie aus den Augen des Proletariats. Von Anfang an war es uns wichtig zu verstehen, wie die historischen Ereignisse Aufstände von Bäuerinnen und Bauern, Kolonialisierung und Hexenverfolgung zusammenhängen. Es häuften sich die Erzählungen der Einhegungen von Land, von Bäuerinnen und Bauern, die für ihre alten Rechte auf Selbstverwaltung kämpften, von Hexenverfolgungen und von der gleichzeitigen Kolonialisierung der ganzen Welt. Alles das sind Geschichten von Entfremdung und Verleugnung auch der Städte als wichtige Orte der demokratischen Gesellschaft.

Immer deutlicher wurde, dass diese Geschichten unsere Gegenwart massiv prägen und dass eine Analyse unserer gesellschaftlichen Probleme nur vor dem Hintergrund der Ereignisse damals zu verstehen sind. So benannten wir diesen Prozess der Wahrheitssuche »500 Jahre Aufstieg und Niedergang der kapitalistischen Moderne«.

Was ist es also, das »mein« Dorf zu dem hat werden lassen, was es heute ist? Die Arbeitsgruppe arbeitete fünf Linien heraus, die einen Anfang bilden, um diese Frage zu beantworten. Zu diesen Linien gehören die Angriffe auf die dörflich-agrarische Gesellschaft, der Kolonialismus, die Angriffe auf die gesellschaftliche Stellung der Frau, die Verleugnung der Stadt und die Militarisierung, wobei die fünfte Linie auch im Hinblick auf die aktuelle Situation entstand, in der wir eine komplexe Militarisierung der Gesellschaft erleben.

Collage zu Bauernaufstand

Vor mehr als 500 Jahren

Wir müssen uns eine Gesellschaft vorstellen, die zu großen Teilen aus Bäuer:innen und Handwerker:innen besteht, die zunehmend unter der Herrschaft von Kirche und Adel ausgebeutet wird.

Die Verfügung über gemeinschaftliche Flächen, die Allmende, »beförderte nicht nur Formen kollektiver Entscheidungsfindung und Kooperation; sie war auch die materielle Grundlage, auf der Solidarität und Gesellschaftlichkeit der Bauern gediehen. Sämtliche Feste, Spiele und Versammlungen der bäuerlichen Gemeinschaft fanden auf der Allmende statt. Die soziale Funktion der Allmende war für Frauen besonders bedeutend. Sie verfügten über weniger Landtitel und geringere gesellschaftliche Macht und waren daher für ihre Subsistenz, Autonomie und ihren gesellschaftlichen Verkehr besonders stark auf die Allmende angewiesen.« (Federici 2022:90)

Es war genau diese Allmende, derer die Bäuerinnen und Bauern zu Beginn des 16. Jahrhunderts nach und nach bestohlen wurden. In diesem Zusammenhang findet das Wort »Einhegung« ihren Ursprung in jener zeitgenössischen Praxis, dass Adelige die Allmende-Flächen umzäunten und Dörfer sowie Schuppen abreißen ließen, um so die eingehegten Flächen in den Privatbesitz zu überführen. Zum wachsenden Unmut der Landbevölkerung trug bei, dass die immer höheren Abgaben in Geldleistungen umgewandelt wurden und somit viele Bäuerinnen und Bauern Schulden anhäuften, wodurch sich die soziale Spaltung enorm vergrößerte.

Zeitgleich erstarkte eine europaweite soziale Bewegung, die Häretiker:innen. Ihre Anhänger:innen organisierten sich dort, wo sie lebten, in losen Zusammenhängen und bauten ein Unterstützungsnetz auf. Auch viele Frauen waren Teil der Bewegung ebenso wie Teil der großen gesellschaftlichen Aufstände, vor allem in Süddeutschland, gegen die Einhegungen und die Etablierung der Lohnarbeit. Einen Höhepunkt dieser Aufstände bildete die Ausrufung der sogenannten »Memminger Artikel« im Jahre 1525. Dies waren 12 Artikel, in denen die Forderungen der demokratischen Gesellschaft nach ihrem alten Recht auf Selbstverwaltung, Selbstversorgung und Selbstverteidigung zusammengefasst wurden und die erstmalig durch den um 1450 durch Gutenberg entwickelten Buchdruck mannigfaltige Verbreitung fanden. Daraufhin schlossen sich der Adel, die Kirche und die stärker werdende Handelsklasse für die Niederschlagung der Aufstände zusammen. Dabei verloren nicht nur mehr als 130.000 Menschen ihr Leben, auch nahm man den Gemeinden ihr Recht auf eigene Rechtsprechung und verbot Feste und Zusammenkünfte sowie den Besitz von Waffen. Dieser systematische Angriff auf die dörflich-agrarische Gesellschaft beschreibt die erste Linie, eine andere stellt der Prozess der Kolonialisierung dar, die u. a. auf einer zentralisierten Militarisierung in Händen der Herrschenden basiert und dies nicht nur in Europa. Händler:innen und Regierende errichteten, beginnend etwa in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, weltweit erste Kolonien, um dort Ressourcen in ihren Besitz zu bringen und sich die Arbeitskraft versklavter Menschen anzueignen. Auf die Bündnisse zwischen europäischen Arbeiterinnen und Arbeitern und der indigenen Bevölkerung in den Kolonien reagierte man u. a. mit der Institutionalisierung von Rassismus, z. B. durch separierende Gesetze und Regelungen.

Die Etablierung der kapitalistischen Moderne ging mit einer systematischen Entmachtung und Rollenverengung von Frauen in der Art und Weise einher, dass Frauen vorrangig den Nachschub an Arbeitskräften und die stillschweigende Versorgung des Lohnproletariats sichern sollten. Frauen wurden um ihr Selbstbestimmungsrecht betrogen, indem man das Wissen um ihre Körper z. B. als »teuflisch« verurteilte. Eine weitere Linie bildet darauf basierend deshalb der Aspekt gezielter Hexenverfolgung, bei der im deutschsprachigen Raum mindestens 50.000 Menschen zumeist vor weltlichen Gerichten verurteilt und grausam getötet wurden.

Es waren damals Frauen, die die Bewegung in die Städte anführten, als man ihnen das Land und die Allmende nahm. Sie waren es auch, denen in den Städten die Organisierung in Zünften und die Ausübung der meisten Berufe verboten wurden. Männer fürchteten unter zunehmendem Konkurrenzdruck durch die aufsteigende Handelsklasse um ihre Stellung. Getrennt vom Land und von den Gemeinschaften wurden die Städte zu Orten der Armut, der Lohnarbeit und der Machtzentralisierung. Diese Entwicklungstendenz konnte vor allem durch einen Prozess der Industrialisierung und eine damit beginnende Entwicklung zum Industrialismus durchgesetzt werden. Die fünfte Linie ist daher die Verleugnung der Stadt.

Der Untergang des Dorfes

Mein Dorf soll hier etwas stellvertretend stehen für eine Entwicklung, die in vielen Regionen Deutschlands vor sich ging. Das Land als Lebensort verlor immens an Bedeutung, die Menschen fanden dort aus verschiedenen Gründen immer weniger Arbeit und vor allem Frauen hatten es schwer zu bestehen. Das dauert bis heute fort. Erst vor knapp 45 Jahren wurden die umliegenden Dörfer zu einer Gemeinde zusammengeschlossen und verloren damit noch weiter an Selbstverwaltungsrechten. Vor 15 Jahren verschärfte sich die Situation weiter dadurch, dass die nächstliegende Stadt Teil der Gemeinde wurde und sowohl die Verwaltung als auch der politische Fokus dorthin verlagert wurden. Aber auch in dem Stadtteil, wo ich wohne, sieht es nicht viel besser aus, denn das dritte Mal innerhalb von zehn Jahren wurden die großen Wohnblöcke verkauft. Und jedes Mal stieg die Miete trotz Kürzungen bei der Hausmeisterei, der Gartenpflege und der Ausstattung. Wie so oft wohnen hier besonders viele Menschen aus ehemals kolonialisierten Ländern.

Was wir aus der Geschichte der letzten 500 Jahre verstehen können, ist, dass die Trennung der Gesellschaft vom Land und dann die Trennung des Einzelnen von der Gesellschaft die Grundlage für die heutige Ausbeutung der Gesellschaft bilden.

Die Analyse des Aufstiegs der kapitalistischen Moderne vor 500 Jahren kann uns ein Werkzeug sein, unsere eigene Geschichte von Widerstand und Unterdrückung besser kennenzulernen. Was wir daraus machen, wie und was wir verändern wollen und müssen, um z. B. eine menschenwürdige und solidarische Gesellschaft zu gestalten, wird maßgeblich unser Denken, Planen und Handeln perspektivisch begleiten und bestimmen.